Durch ein YouTube-Video entdeckte Gerd Sonntag die künstlerische Strahlkraft von Patricia Petibon. Nun hat der Berliner Maler und Glaskünstler für die verehrte Sängerin ein außergewöhnliches Buch gestaltet.
Von Manuel Brug
Eine Sängerin zwischen zwei Buchdeckeln. Für gewöhnlich liegt eine Singstimme ja höchstens in CD-Form auf einem Laserteller. Oder sie wird biografisch zwischen zwei Pappdeckeln untergebracht. Aber diesmal ist es anders, ein wenig skurriler, und auch obsessiver. Doch das passt schon. Denn die französische Sopranistin Patricia Petibon gehörte noch nie zu den üblichen Koloraturbetriebsnudeln, sondern war immer schon ein sehr besonderes Ziervögelchen in der Voliere für exotische Piepmätze. Nicht so ganz von dieser Welt, mit einer gläsern-leichten Stimme, schien sie stets leicht abgehoben über dem Wasser der Opernwelt zu wandeln. Mit einer unmittelbar sich entfaltenden, sofort packenden Bühnenpräsenz ausgestattet, leuchtet ihre opake Stimme im Barock- und Mozart-Fach, lasiert sie sanft als Mélisande ihre Linien und strahlt verrucht-verspielt als Puppe Olympia oder schönes Zirkustier Lulu.
Die Stimme Petibons ist nur im Volumen limitiert, vokal und repertoiremäßig kennt sie keine Grenzen. Und sie vermag ihre Hörer gerade auch in intimeren Liederabenden, die sie gern als Gesamtkunstwerk aus Klang, Licht, Kostüm und Aktion ausweitet und inszeniert, sekundenschnell in ihre Klang-, Figuren- und Schicksalswelten zu entführen. In Deutschland freilich war und ist Patricia Petibon eine so sphärische wie periphere Erscheinung, Ihre Karriere hat die heute 54-Jährige vor allem in Frankreich und der Schweiz sowie in Wien (als Harnoncourt-Liebling) und Salzburg gemacht.
Doch auch wenn sie abwesend ist, beherrscht Patricia Petibon zugleich ein schattiges, verwinkelt-vollgestelltes Künstleratelier in einem Ladenlokal tief im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Hier hat der Maler und Glaskünstler Gerd Sonntag sein Kreativreich. Und er, der – selbst musikalisch geschult, aber fern der Oper – eines schönen Tages durch den Hinweis einer Freundin auf ein YouTube-Video von einer fast manischen, freilich ganz auf die Stimme und die künstlerische Erscheinung der Petibon fokussierten Leidenschaft für diese besonderen Klänge und ihre Verursacherin gepackt wurde, er hat hier sein jüngstes, schon länger betriebenes Projekt auf Stellagen, Ablagen, in Brennöfen, Schachteln, Skizzenkladden und zwischen schon fertigen Buchdeckeln aus feinstem Leder ausgebreitet: Ein aufwändiges Künstlerbuch, das sich ausschließlich Patricia Petibon widmet.
Gerd Sonntag besuchte die Volks-Kunstschule in Jena, studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, war Meisterschüler bei dem Bildhauer Theo Balden. Seit Mitte der 90er-Jahre beschäftigt er sich mit dem Werkstoff Glas, stellte im In- und Ausland aus. Und noch länger schreibt er auch Gedichte, 2003 erschien sein Buch Notwehr zur Sprache der deutschen Kunstkritik. Ein freier Geist, vielfältig interessiert, für Besonderes zu entflammen und hartnäckig.
Sängerphänomen zwischen zwei Buchdeckeln
All dieser Charaktereigenschaften bündelt der lebhafte 60-Jährige, dessen Webseite passend „alles-ich.de“ heißt, nun in dem Buchkunstwerk An Patricia Petibon – Traumbriefe aus Berlin. Die klingen dann zum Beispiel so: „Ein Kind frisst Feuer, / aber schmeckt Schokolade. / Löcher fliegen. / Wimpern kochen. / Geld wird gefrostet. / Der Sommer mutiert / zu geschwefelter Kreide. / Licht und Luft fusionieren im Stein.“ Sie werden aber auch konkreter, wenn er die Stimme, die verkörperten Figuren der von ihm adorierten Sängerin einzukreisen versucht.
„Lascia ch’io pianca / mia criuda sorte“ – „Lass mich mit Tränen / mein Los beklagen“, die berühmte Trauerarie der Almirena aus Händels Kreuzritterspektakel Rinaldo von 1711, sie war es, die Gerd Sonntag in der Interpretation der Petibon flashte. „Ich hatte bisher mit Oper nicht so viel zu tun, das aber hat mich nachhaltig gepackt“, erzählt Sonntag zunächst bei Fritz-Kola, ehe er auf Brandy umsteigt. „Und ich wollte mehr über diese Sängerin wissen, die mich faszinierte. Ich kaufte ihre CDs und DVDs, reiste ihre einige Male nach, etwa zu einer Orfeo ed Euridice-Aufführung in Paris.“ Und er begann, Briefe an sie zu schreiben. Die er wirklich abschickte. Versuchte sich da ein Bildhauer als moderner Pygmalion eine neue Galatea zu schaffen?
Sonntag wehrt ab, leuchtet stattdessen mit einer Elektrolampe durch das Glaslabyrinth im dämmrigen Atelier. Ja, man habe sich inzwischen kennengelernt, Patricia Petibon und er hätten sich einige Male getroffen, sie war auch schon in seinem Atelier, aber man wahre Distanz. Ja, sie habe sich inzwischen wieder ein wenig zurückgezogen. 2018 ist ihr Mann gestorben, ein Jazzmusiker, nach nur drei Jahren Ehe. Aber trotzdem: Sonntag kann von seinem Objekt der Bewunderung nicht lassen, er schreibt weiter, er formt aus Glas. Ihre Skulptur hat er schon geschaffen, einen buntglitzernden Porträtkopf, der aus vielen verschiedenen Schichten aufgebaut ist, mit unterschiedlicher Beleuchtung immer wieder anders aussieht – eine seiner Spezialitäten.
Doch sein Petibon-Buch, das ist ein gewaltiges Unterfangen. Jede Seite auf feinstes Japanpapier gedruckt, Schrift, die zu Ornamenten und Bildern wird, die Sängerin immer wieder neu mit Worten um- und einfasst, sich auch dichterisch verliert. Jedes Buch ist ein Unikat, verziert mit einem individuellen, bunten Glasobjekt im Titel. Die Seiten werden von Sonntag mit immer neuen Inhalten versehen, weiter zeichnerisch variiert und verdichtet. Kalligrafie. Ein wenig fetischhaft ist das schon, aber auch faszinierend in seiner Mischung aus Konkretheit und freier Fantasie. Und schon zeigt der Künstler wieder ein Video, ergötzt sich an Petibons Minenspiel, ihrer Körpersprache.
Patricia Petibon, völlig abgehoben von der echten Sängerin, als surreale Fantasie. Und immer noch reichte das Gerd Sonntag nicht, er wollte eine weitere Dimension. Und so beflügelte er auch den Burgtheater-Schauspieler Wolfram Berger, die Texte einzulesen. Sie liegen exklusiv als CD bei und bieten somit auch noch eine akustische Variante. Billig ist das nicht: 4.000 Euro kostet ein Buch, 32 Exemplare sollen es sein (und eine reine Printausgabe in viel kleinerem Format), die bei Estin Buchkunst erscheinen. 37 Briefe sind es, auf 48 Seiten Text, mit 60 Seiten Grafik, in weißes, schwarzes, grünes Lammleder gebunden, mit eigens entworfenem Lesepult; doch schon füllt sich die Liste der Vorbestellungen. Und natürlich wird auch eines den Weg nach Paris finden…
Ausstellung der Bücher: 25. Juli- bis 22. September 2024 in der Galerie Alte Feuerwache, Marchlewskistraße 6, 10243 Berlin