LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
es sind in der Oper ja grundsätzlich immer alle edel, gut und altruistisch. Natürlich nicht die Handlungen der Stücke, ihre Charaktere oder gar die Opernschaffenden selbst. Aber die gemeinsame Erzählung aller Beteiligten kennt immer nur einen einzigen Zweck: den guten. Unter Weltverbesserung tut es der Opernbetrieb nicht. Aus den Menschen bessere Menschen machen, die schlechte Welt zu einer guten formen! Soziale Verantwortung auf allen Kanälen! Mit dem Finger auf die Missstände zeigen, Vorreiter im Kampf für die Entrechteten. Das mit der Vorbildfunktion geht dabei natürlich verlässlich schief. Die gerechtere Gesellschaft findet sich regelmäßig außerhalb des Theaters. In dessen geschlossenem System feiern Machtmissbrauch und viele andere Übelkeiten auch in so aufgeweckten Zeiten wie heute unvermindert fröhliche Urstände. Doch das ist nur eine weitere Parallele zur Kirche, die ebenfalls Schwierigkeiten hat, junge Leute zu begeistern. Eine erste, freilich ketzerische, könnte darin bestehen, dass das juvenile Publikum keine Lust darauf hat, immer nur gut zu sein (das alte genauso wenig, aber das hat sich an die Spielregeln schon gewöhnt).
Wie viel menschlicher, wie viel cooler, wie viel lebensnäher scheinen dagegen gerade jüngeren Leuten etwa die Bling-Bling-Philosophie des Hip-Hop oder andere Richtungen der Pop-Kultur zu sein? Selbstverwirklichung, Spaß haben, das Leben genießen – und dabei nicht nur auch mal schlecht sein zu dürfen, sondern gleich ganze Vorbilder bejubeln zu können, die in Perfektion das Leben führen, das man selbst gerne hätte. Von Gangsta-Rappern hier gar nicht zu reden.
Kann es sein, dass ein Opernhaus auf viele auch deshalb so langweilig wirkt, weil es immer als Moralanstalt daherkommt? Für eine junge moderne Generation, deren höchstes Gut die Identität ist, bietet die Oper nur wenige Identifikationsmöglichkeiten. „Die singen nicht über mich!“ ist denn auch der Titel unseres aktuellen Themenbeitrags, in dem wir der Frage nachspüren, wie man aus der Reibung zwischen den großen idealistischen Kollektivzielen sowie alten statischen Normvorstellungen einerseits und der fluiden Baukasten-Mentalität eines jungen Individuums andererseits produktive Funken schlagen könnte.
Und noch ein Blick in den Abgrund: Wussten Sie, dass der Mord in einer Partnerschaft fast immer nach einem ähnlichen Muster abläuft und sich in bestimmten Stufen vorbereitet? Die Operngeschichte ist voll von häuslicher Gewalt und Beziehungsmorden. Auch unser romantischer Blick darauf hat sich bis heute gehalten: Don José liebte Carmen so sehr, dass er sie aus Verzweiflung einfach umbringen musste. Man könnte fast behaupten, die Kunstform Oper sei jahrhundertelang gerade deshalb so herrlich herzzerreißend erblüht, weil sie von toten Frauen wunderbar geborgen war. Höchste Zeit, diesen Schutzraum aufzubrechen – findet auch eine junge Regisseurin, mit der wir für unseren Beitrag in der vorliegenden Ausgabe gesprochen haben.
Die bösen Charaktere sind in der Oper meistens die interessanteren. Auch Sänger bevorzugen sie, denn es lässt sich mehr aus ihnen machen. Mit einer der besten finsteren Gestalten vom Dienst, Christian Van Horn, haben wir gesprochen. Der Bassbariton ist längst auf allen internationalen Bühnen zu Hause und singt im Sommer in Salzburg die Bösewichter im neuen Hoffmann. Weiter südlich, beim Festival d’Aix-en-Provence, steht Madama Butterfly in der Regie von Andrea Breth auf dem Programm, die zuletzt in Brüssel eine selten unheimliche und unheimlich gute Turn of the Screw inszeniert hat. Ihrer Produktion gilt die aktuelle „Nahaufnahme“, und mit Adam Smith, dem Pinkerton, haben wir uns ebenfalls zum Interview getroffen.
Wir wünschen beste Lektüre und eine erholsame Sommerfrische!
Herzlich,
Ihr Ulrich Ruhnke